Johannes Kreißig ist geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB e. V.). Im Interview spricht er über die Relevanz und Chancen nachhaltigen Bauens und macht deutlich, wo es Nachholbedarf gibt.
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wahl ins Board of Directors des World Green Building Council (WorldGBC). Was betrachten Sie aktuell als wichtigste Aufgabe des WorldGBC?
Johannes Kreißig: Vielen Dank. Als Dachverband der nationalen Organisationen sehe ich es als zentrale Aufgabe des WorldGBC, neben der globalen Interessenvertretung und Netzwerkarbeit ein gemeinsames Verständnis sowie einheitliche Definitionen und Grundlagen für die drängenden Themen zu schaffen. Das WorldGBC hat sich das Ziel gesetzt, die Transformation der Bau- und Immobilienwirtschaft hin zu nachhaltigen Gebäuden für jeden und überall zu katalysieren. Dafür muss jedes einzelne Mitglied die richtigen Werkzeuge zur Hand haben und eben nicht jeder das Rad neu erfinden. Was ist beispielsweise genau ein klimaneutrales Gebäude, was sind die Rechenregeln bei der Beurteilung und wie kann man das am besten planen?
Zur Person
Johannes Kreißig ist Mitinitiator und Gründungsmitglied der DGNB, seit 2016 Geschäftsführer der DGNB GmbH und seit 2018 auch geschäftsführender Vorstand im Verein. Im August 2020 wurde er erneut in den Vorstand des World Green Building Council (World-GBC) gewählt. Bereits 2010 bis 2016 hatte er diese Position inne.
Die DGNB ist Europas größtes Netzwerk für nachhaltiges Bauen. Sieht Nachhaltigkeit in allen europäischen Ländern gleich aus?
Johannes Kreißig: Die Zielsetzung der Nachhaltigkeit sieht in allen europäischen Ländern vergleichbar aus. Nach dem Willen der Europäischen Kommission soll bis 2050 Europa als erster Kontinent klimaneutral sein. Da kommt auf Bau- und Immobilienwirtschaft einiges zu. Was sich in den Ländern unterscheidet, ist der Weg dahin. Österreich hat mit seinem großen Anteil an Wasserkraft eben andere Voraussetzungen und Aufgaben als Polen, wo schwerpunktmäßig Kohle verbrannt wird. In Deutschland stellt sich uns die große Aufgabe, mehr erneuerbare Energien netzdienlich in das Energiesystem einzubinden und dabei die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Hier spielt der Gebäudesektor gemeinsam mit einem sich ändernden Mobilitätssektor eine entscheidende Rolle. Das Zertifizierungssystem der DGNB für nachhaltige Gebäude und Quartiere gibt deshalb auch lebenszyklusbezogene Referenz- und Zielwerte vor, die auf länderspezifische Besonderheiten eingehen. Nachhaltigkeit ist kein Zustand, sie ist ein Prozess der kontinuierlichen Verbesserung.
Europaweit gesehen fehlt in den Ländern vor allem das Verständnis dafür, dass Klimaschutz und Nachhaltigkeit eine Entwicklungschance und Investition in die Zukunft sind – und keine Bürde. Der EU Green Deal wird das Ganze von der wirtschaftlichen Seite her antreiben: Das EU-weite Klassifizierungssystem für nachhaltige Investitionen (Taxonomie) wird den Sektor radikal verändern.
„Wir bauen heute Gebäude für mindestens die nächsten 50 Jahre. Die Politik muss zukunftsgerichteter steuern.“
Wo sind wir Deutschen Vorreiter? Wo haben wir Nachholbedarf?
Johannes Kreißig: Qualität, Energieeffizienz, Technologieentwicklung – darin ist Deutschland Vorreiter. Ambitionen und die Perspektive sind allerdings nicht ausreichend in die Zukunft gerichtet. Wir reden immer davon, dass sich alles betriebswirtschaftlich rechnen muss. Die Risiken und volkswirtschaftlichen Schäden zum Beispiel durch den Klimawandel sind da jedoch nicht mit eingepreist und werden auf die nächsten Generationen verschoben oder direkt sozialisiert. Wir bauen heute Gebäude für mindestens die nächsten 50 Jahre! Die Politik muss hier zukunftsgerichteter steuern.
Wie unterstützen Sie Kommunen dabei, die Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit schneller, breiter und zielorientierter umzusetzen?
Johannes Kreißig: Mit der Initiative „Klimapositive Städte und Gemeinden“ wollen wir erreichen, dass Städte über einzelne Leuchtturmprojekte hinaus handeln. Sie müssen Vorbild sein und Klimaschutz in die Fläche bringen, zum Standard machen und dabei von Erfahrungen profitieren. Durch den Zusammenschluss der Städte soll die gebündelte Kraft in konkrete Maßnahmen fließen. Sodass nicht jeder sich die Themen noch mal selbst erarbeitet.
Welche Rolle spielt nachhaltiges Bauen beim privaten Bauherrn?
Johannes Kreißig: Solange Nachhaltigkeit neben dem „konventionellen Hausbau“ steht und nicht als Normalität darin verankert ist, läuft etwas falsch. Die Frage ist doch, wie wollen wir heute und morgen leben? Wir wollen gesunde Gebäude, die auch noch in 50 Jahren ihren Wert haben. Anders gesagt: Alles, was wir heute nicht nachhaltig bauen, wird zukünftig entweder aufwendig nachgerüstet oder endet als „stranded asset“ im wirtschaftlichen Totalschaden. Wir müssen doch über die Zukunftsfähigkeit der Gebäude sprechen und dann ist nachhaltiges Bauen alternativlos und eben nicht teurer, wenn man das vollständige Bild betrachtet – ganz im Gegenteil.
„Solange Nachhaltigkeit neben dem ,konventionellen Hausbau' steht und nicht als Normalität darin verankert ist, läuft etwas falsch.“
Muss nachhaltiges Planen und Bauen einfacher werden, um künftig alltäglich zu sein?
Johannes Kreißig: Es ist nicht schwieriger, nachhaltig zu bauen, es ist nur anders, und viele sind es heute nicht gewohnt. Planen und Bauen muss grundsätzlich einfacher werden. Ich bin mir sicher, dass diese Vereinfachung mithilfe der Digitalisierung voranschreiten wird. Entscheidend ist, dass dieser Wandel mit und um die Themen der Nachhaltigkeit geschieht. Dann wird er nachhaltiges Bauen massiv nach vorne bringen, da bin ich sicher.
Die DGNB vergibt die Zertifikate Platin, Gold und Silber für nachhaltige Bauprojekte. Wie groß ist denn der Anteil an zertifizierten Gebäuden überhaupt?
Johannes Kreißig: In Deutschland fließt fast jeder vierte Euro im Bereich von Gewerbeimmobilien in zertifizierte Gebäude. Der Schwerpunkt liegt dabei auf A- und B-Lagen der großen Ballungsgebiete. Wenn heute in Frankfurt ein Hochhaus gebaut wird, können Sie davon ausgehen, dass es zertifiziert wird. Die DGNB ist in Deutschland Marktführer mit einem Marktanteil von über 80 Prozent bei zertifizierten Neubauten.
Was wünschen Sie sich von der Baustoffindustrie hinsichtlich des nachhaltigen Bauens?
Johannes Kreißig: Ich wünsche mir eine Denkweise in Lösungen und nicht in Tonnage. Wenn eben nicht mehr Kubikmeter Beton verkauft werden, sondern die Funktion, kann mit geeigneter Planung und innovativem Herangehen von Beginn an sehr viel Material eingespart werden. Ich wünsche mir zudem, dass die Baustoffindustrie mehr Druck macht bei der Überarbeitung von Regelwerken unter Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten. Die Zukunft erfordert eine andere Priorisierung! Manchmal hilft auch der Blick in die Vergangenheit: Als Ressourcen noch mühsam zu beschaffen und damit wertvoller waren, wurde bereits ressourcenschonender gebaut. Warum werden heute keine Rippendecken mehr umgesetzt? Nicht zuletzt wünsche ich mir: Bitte kein Greenwashing!
Jeder vierte Euro
In Deutschland fließt fast jeder vierte Euro im Bereich von Gewerbeimmobilien in zertifizierte Gebäude. Die DGNB ist in Deutschland Marktführer mit einem Marktanteil von über 80 Prozent bei zertifizierten Neubauten.
Wie wichtig ist die Baustoffwahl mit Blick in eine nachhaltige Zukunft?
Johannes Kreißig: Das CO2-Budget fürs Bauen wird 2050 begrenzt sein. Baustoffe machen heute noch einen erheblichen Anteil an CO2-Emissionen beim Bauen aus. Je schneller die Dekarbonisierung der Baustoffindustrie vonstattengeht, desto besser kann sich die Gesellschaft zukünftig Bauaufgaben „leisten“. Wir müssen aber immer im Blick behalten, dass neben CO2-armen Baustoffen die lebenszyklusbezogene Optimierung des Bauwerks mit hoher Dauerhaftigkeit entscheidend ist.
Wie lässt sich nachhaltiges Bauen noch besser im öffentlichen Bewusstsein verankern?
Johannes Kreißig: Wir müssen deutlicher zeigen, was wir mit nicht nachhaltigem Handeln für Veränderungen induzieren und welche Konsequenzen das für die kommenden Generationen hat. Ich kann die Fridays-for-Future-Bewegung verstehen und erwarte von der Politik, dass sie schneller ihre Hausaufgaben macht und nicht die jungen Leute nach den Lösungen fragt. Wir haben genug Expertise und wissen, was zu tun ist. Corona überschattet das Thema Klimaschutz zurzeit. Aber Greta kommt zurück, denn das Problem ist ja nicht gelöst, ganz im Gegenteil.
Sie sind diplomierter Maschinenbauer. Lassen wir zum Schluss des Interviews einfach mal die Fantasie spielen. Was für eine Maschine würden Sie denn gerne erfinden und bauen?
Johannes Kreißig: Ganz klar, einen Duplikator, der weltweit einsetzbar ist. Dabei handelt es sich um eine Maschine, die Wissende klont, um damit die Geschwindigkeit der Veränderung zu beschleunigen. Bei allem Wissen, das wir haben, wir sind heute nicht schnell genug in der Umsetzung. Wenn die Entwicklungs- und Schwellenländer dieselben Fehler machen wie wir in der Vergangenheit – und danach sieht es aus -, werden wir keines der Klimaziele erreichen, weil das Versprechen auf Wohlstand heute eine höhere Strahlkraft auf die Menschen hat als die lebenswerte Zukunft. Im Comic „Calvin and Hobbes“ von Bill Watterson gibt es den Duplicator übrigens bereits.
Treiber für nachhaltiges bauen
Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e. V. (DGNB) bildet mit ihren mehr als 1.200 Mitgliedsorganisationen die gesamte Wertschöpfungskette in der Bau- und Immobilienwirtschaft ab: Architekten, Ingenieure, Fachplaner und Berater sind ebenso wie Projektentwickler, Projektsteuerer, Investoren, Bauunternehmer und Gebäudedienstleister engagiert. Dazu Kommunen und Verbände genauso wie Bauproduktehersteller und Unternehmen aus all den Branchen, deren Kerngeschäft zwar nicht im Bausektor liegt, die aber bei ihren Immobilien die Ideen des nachhaltigen Bauens vorantreiben. Nicht zuletzt sind auch Hochschulen Mitglieder bei der DGNB.